Wirecard-Skandal wird Justiz Jahre beschäftigen
In Sachen Wirtschaftskriminalität ist 2020 ein denkwürdiges Jahr: Mindestens fünf Jahre lang soll der Vorstand des Zahlungsdienstleisters Wirecard in einem Fall von «gewerbsmäßigem Bandenbetrug» Banken und Investoren systematisch belogen haben - bis zum Insolvenzantrag im Juni.
Die juristische Aufarbeitung wird aller Voraussicht nach länger als fünf Jahre dauern. An erster Stelle stehen die strafrechtlichen Ermittlungen. Deren Abschluss ist nicht in Sicht, wie Oberstaatsanwältin Anne Leiding sagt, die Sprecherin der Münchner Ermittlungsbehörde. Wie viele Beschuldigte es mittlerweile sind, enthüllt Leiding nicht - deren Zahl «ändert sich ständig».
Mit einem mutmaßlichen Schaden von über drei Milliarden Euro ist die Bilanzmanipulation beim früheren Dax-Konzern Kandidat für den größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bisheriger Rekordhalter ist das badische Unternehmen Flowtex, das in den 1990er Jahren mit dem Verkauf nicht existenter Spezialbohrmaschinen zwei Milliarden Euro erschwindelte.
Die Münchner Staatsanwaltschaft hat ihr mit Wirecard befasstes Personal seit dem Sommer nahezu verdoppelt: von sechs Ermittlern im August auf derzeit zehn. Ende Januar wird sich entscheiden, ob Ex-Vorstandschef Markus Braun auf freien Fuß kommt. Nach einem halben Jahr in Untersuchungshaft steht der Haftprüfungstermin bevor.
Zusätzlich kompliziert werden die Ermittlungen dadurch, dass wesentliche Schauplätze in Dubai und in Südostasien liegen. «Wir haben zahlreiche Rechtshilfeersuchen gestellt und europäische Ermittlungsanordnungen beantragt», sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft.
Hauptvorwurf ist, dass die Wirecard-Chefetage spätestens 2015 beschlossen haben soll, die Bilanzen mit Scheingeschäften aufzublähen. Wirecard hat Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt.
Die Anwälte der Manager haben sich bislang nicht inhaltlich zu den Vorwürfen geäußert, auch Vorstandschef Braun persönlich sagte dazu bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss des Bundestags nichts.
Noch sehr viel länger dauern als das Strafverfahren könnte die Entschädigung der Gläubiger. Große Insolvenzverfahren können insbesondere in Betrugsfällen außerordentlich lang dauern. Bei Flowtex waren es zwei Jahrzehnte.
Bis zur Wirecard-Gläubigerversammlung im November hatten Banken, Investoren, Geschäftspartner und Aktionäre insgesamt 12 Milliarden Euro an Forderungen angemeldet. Das ist noch lange nicht das Ende.
«Derzeit erreichen uns täglich noch weitere Forderungsanmeldungen», sagt ein Sprecher von Insolvenzverwalter Michael Jaffé. «Schon die Erfassung der mittlerweile zehntausendfach eingegangenen Anmeldungen wird noch Monate dauern. Bis wann deren Prüfung abgeschlossen sein wird, lässt sich daher derzeit nicht verlässlich sagen.»
Forderungen kommen nicht nur von Banken, Investoren und Geschäftspartnern. Die Verluste der Wirecard-Aktionäre sind noch viel größer als der mutmaßliche Betrugsschaden: Die Wirecard-Papiere haben innerhalb von zwei Jahren über 20 Milliarden Euro eingebüßt.
Doch ob die Aktionäre Chancen haben, einen Teil ihrer Verluste im Rahmen des Insolvenzverfahrens wieder hereinzuholen, wird womöglich ebenfalls vor Gericht geklärt: «Zu beachten ist auch, dass bestimmte Rechtsfragen - wie etwa auch zur Berücksichtigung von Schadenersatzforderungen der Aktionäre - im Interesse aller Gläubiger gegebenenfalls in Pilotprozessen geklärt werden müssen», erklärt Jaffés Sprecher.
Von Wirecard wird am Ende wenig bleiben. Der Insolvenzverwalter hat das Kerngeschäft, zu dem auch die meisten deutschen Mitarbeiter gehören, bereits an die spanische Bank Santander verkauft.
Bei der Wirecard AG und mehreren Tochtergesellschaften verbleiben lediglich einige Angestellte in den Abwicklungsteams. Eine zweistellige Zahl weiterer Tochtergesellschaften rund um den Globus gibt es noch, bei manchen ist der Verkaufsprozess laut Insolvenzverwalter weit fortgeschritten. Doch nicht alle dieser Firmen werden sich verkaufen lassen. «Gesellschaften oder Geschäftsbetriebe, für die es keine Interessenten und damit keine Fortführungsperspektive gibt, müssen abgewickelt werden», sagt Jaffés Sprecher.
Neben Straf- und Insolvenzverfahren steht eine Vielzahl von Zivilklagen. Die meisten richten sich gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die mutmaßlich gefälschten Bilanzen testierte.
Am Stuttgarter Landgericht sind mittlerweile knapp 70 Klagen gegen EY eingegangen, am Münchner Landgericht knapp 20, wie deren jeweilige Sprecher mitteilen. EY äußert sich zu der Klagewelle nicht.
Gegen den früheren Vorstandschef Braun ist am Münchner Landgericht dagegen erst eine Schadenersatzklage anhängig. Manche Geschädigte versuchen jedoch vorbeugend sicherzustellen, dass dem einstigen Milliardär möglichst kein Cent seines Geldes bleibt: Am Münchner Landgericht sind über 80 Arrestbeschlüsse gegen Brauns Vermögen beantragt, wie dessen Sprecher sagt.
Schneller als die Justiz wird die Politik sein. Im Gefolge des Skandals sind die deutschen Behörden in die Kritik geraten, Finanzminister Olaf Scholz und Justizministerin Christine Lambrecht
(SPD) präsentierten im Oktober ihre Pläne zur Verbesserung der Kontrolle. Beim Verdacht falscher Bilanzierung soll die Finanzaufsicht Bafin künftig unmittelbar einschreiten können. Sowohl die Reform der Aufsicht als auch die Arbeit des Untersuchungsausschusses sollten spätestens im Sommer abgeschlossen sein - denn die nächste Bundestagswahl steht vor der Tür.
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